Am See

Last Updated on 29. Mai 2018 by Mirjam Wicki

Es war halb elf Uhr während der «Langen Nacht der Kirchen». Eine kleine, buntgemischte Gruppe von Menschen war noch immer versammelt, und ihnen durfte ich diese Geschichte vorlesen.

 

Ruhig liegt er vor ihr, der grosse See, der an dieser Stelle ganz überschaubar wirkt.

Sie weiss, dass er nicht immer ruhig liegt, sie hat es vor zwei Jahren erlebt. Damals waren sie mit dem Kanu auf dem See unterwegs, die ganze Familie. Zwei Kinder, die fröhlich ein Paddel in der Hand hielten und damit auf dem Wasser herumklatschten. Sie selbst, die eine Ahnung hatte vom Paddeln, aber keine vom Steuern eines Kanus. Und ihr Mann, kräftig im Paddeln und sicher im Steuern. Der Wind kam auf, als sie die Halbinsel, die sie ansteuerten, beinahe erreicht hatten. Nur noch schnell durch den kleinen Kanal rudern und zum anderen Ufer des Sees schauen! Nachdem sie den Kanal wieder verlassen hatten, spürten sie, wie der Wind heftiger wurde. Schnell zurück! Ihr Mann und sie begannen, koordinierter zu paddeln, wiesen die Kinder an, es ihnen gleichzutun. Sie hatten die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als die näherkommenden Wolkentürme begannen, bedrohlich zu wirken. Wasser rund um sie her, Wind von der Seite, das rettende Ufer mit dem Steg in guter Sichtnähe, doch kaum näherkommend. Wir schaffen es! Natürlich. Was denn sonst? Sie liess den Gedanken nicht zu, hielt sich verbissen an die Anweisungen ihres Mannes, spornte die Kinder an und liess die Angst erst zu, als sie sie in der Stimme ihres Mannes wahrnahm. Das Ufer war nahe, doch der Steg entfernte sich. Der Wind blies das Kanu von ihm weg, in Richtung des undurchdringlichen Schilfgürtels. Mama? Kommen wir ans Ufer? Natürlich. Was denn sonst. Rudern, so wie Papa es sagt, kräftig. Wir schaffen es. Zug um Zug gegen den Wind, weg vom Schilf, hin zum rettenden Steg.

Während sie nun am Ufer sitzt und auf den ruhigen See schaut, kann sie sich nicht erinnern, ob ihr Mann schliesslich ins Wasser sprang und sie die letzten Meter ans Ufer zog oder ob sie es mit Paddelkraft schafften. Sie weiss noch, dass besorgte Menschen auf dem Steg standen und aufatmeten, als sie anlegten. Sie spürt noch die Erleichterung, mit der sie ihre Kinder in den Arm nahm und ihrem Mann, dessen Ruhe und Stärke sie gerettet hatten, dankbar zulächelte.

Jetzt lächelt sie dem ruhigen See zu. Heute hat er sein Versprechen gehalten. Vor wenigen Stunden ist sie mit ihrer Familie wieder in ein Kanu gestiegen, über den See zur Halbinsel gepaddelt, durch den kleinen Kanal hindurch und wieder zurück. In guter Stimmung, ohne Angst, ohne sorgenvolle Blicke zum Himmel, mit viel Spass, Gelächter und spritzenden Rudern. In Sichtweite des Stegs haben sie angehalten, die Kinder sprangen kreischend ins Wasser, genossen den Auftrieb der Schwimmwesten und hievten sich kichernd und prustend zurück ins schwankende Kanu.

Ruhig liegt der See vor ihr, ruhig werden ihre Gedanken, wird ihr Geist. Sogar die Stimmen vom nahen Spielplatz her wirken gedämpft. Nicht dass die spielenden Kinder gedämpfter Stimmung wären, sie sind nur satt. Satt vom Abendessen, das vor den meisten Wohnwagen, Zelten und VW-Bussen bereits eingenommen wurde. Satt von der Sonne und der Wärme des Tages, die sie auf der Haut spüren, vielleicht verstärkt durch eine heisse Dusche. Satt von der frischen Luft, der Bewegung und den Abenteuern, die ein Campingtag am See bieten. Satt auch vom Spielen mit den altbekannten und den neuen Freunden und Freundinnen. Sie fühlt dieselbe Sattheit, während sie am See sitzt und sich von seiner Ruhe einnehmen lässt. Einer Ruhe, die sie selten so spürt. Warum eigentlich?, wundert sie sich. Warum fühle ich mich so viel ruhiger, satter und sicherer, wenn ich auf einem Campingplatz am Ufer eines unberechenbaren Sees sitze, als wenn ich zu Hause bin? Was ist der Grund, dass sich diese Weite um mich herum mehr wie ein Daheim anfühlt als mein eigener Garten? Weil es besonders ist, weil es nicht Alltag ist, gibt sie sich selbst zur Antwort und lässt es genügen. Ihre Gedanken schweifen vom Warum zum Wie, zu dem prallen, fröhlichen, banalen Leben auf dem Campingplatz, dieser Schicksalsgemeinschaft für ein verlängertes Wochenende, die die Devise «leben und leben lassen» konsequent verinnerlicht zu haben scheint. Sie denkt an das Rennen, dass sie sich am Ende ihrer Kanutour mit einer anderen Crew lieferten und zu ihrer Freude gewannen. Schmunzelnd denkt sie an die netten jungen Männer aus dem Verliererkanu, die ihnen anschliessend beim Ausufern halfen und von denen sich ihr Sohn gar nicht mehr trennen mochte. Er durfte Teil sein der lustigen Runde, die sich als feucht-fröhlicher Junggesellenabschied entpuppte, bekam Schorle statt Sangria und warf beim Schwedenschach den letzten Zug, weil er zwar mit Abstand der jüngste Mitspieler war, gleichzeitig aber auch der mit Abstand noch treffsicherste. Zwei von uns sind Lehrer, wir sind verantwortungsvoll!, hatten die jungen Männer ihr versichert.

Sie schmunzelt, während ihr Blick noch immer auf das Wasser gerichtet ist. Als ob betrunkene Lehrer vertrauenseinflössender wären als betrunkene Nichtlehrer! Sie muss es wissen, sie war selbst einmal Lehrerin. Die feucht-fröhliche Runde ist weitergezogen, unternimmt eine weitere Tour auf dem Wasser, ihr junger Bewunderer hat sich wieder in die Gruppe der Gleichaltrigen auf dem Spielplatz eingegliedert.

Schade, dass man nicht am See entlangspazieren kann, denkt sie. Andererseits hat der Ort wohl gerade dem angrenzenden Naturschutzgebiet seine Ruhe und Schönheit zu verdanken. Sie steht auf, geht am Spielplatz vorbei, wo sie den Kindern zulächelt, den eigenen und den fremden. Geht zu ihrem Mann und fragt ihn, ob er mit ihr einen Abendspaziergang mache. Halt nicht dem See entlang, aber vielleicht finden sie ja einen anderen Weg.

Sie finden ihn. Gleich neben dem Eingang des Campingplatzes zweigt ein Trampelpfad in den Wald hinein. Sie folgen ihm und werden zu einer Lichtung geführt, einem hellen Fleck mitten im Wald, geheimnisvoll und schön. Ein Ort zum Verweilen, doch sie verweilen nur kurz, bevor sie weitergehen auf ihrem Abendspaziergang, der sie auf dem schmalen Trampelpfad bald ins undurchdringliche Dickicht führt. Das war wohl nichts, lass uns umkehren. Wieder vorbei an der Lichtung, die beim zweiten Mal bereits weniger zauberhaft wirkt, hinaus aus dem Wald, und da hören sie es: Das unheilverkündenden Dü-da eines Rettungsfahrzeuges. Es ist nicht das erste heute, offenbar hat die nahe Stadt ein gutbesuchtes Krankenhaus. Doch dieses Dü-da kommt näher, und ein Blick bestätigt die Befürchtung: Das Ambulanzfahrzeug biegt auf den Campingplatz ein. Vor der Schranke bleibt es stehen, sie und ihr Mann unmittelbar daneben, plötzlich mitten im Geschehen. Es ist einer der jungen Junggesellen, der vom See herbeieilt, um die Schranke zu öffnen. Gefolgt von ihrem Sohn, der ja ein guter Freund dieser Freunde des zukünftigen Bräutigams geworden ist. Was hat er?, fragt der junge Freund. Schnittwunden, antwortet der Ältere und leitet die Ambulanz Richtung See.

Und so kommt es, dass sie wieder auf den ruhigen See schaut. In gebührendem Abstand zum Ufer steht sie da, den Blick auf den blinkenden Krankenwagen gerichtet. In gebührendem Abstand auch zu den Spielgeräten auf dem Spielplatz, auf denen sich die Campingkinder versammelt haben. Ruhig, respektvoll, voller Anteilnahme und schaudernder Neugier schauen sie auf das Boot, das ruhig über den ruhigen See kam und den verletzten jungen Mann und seinen Freund an den Anlegeplatz brachte. Es scheint lange zu dauern, bis die Rettungsleute so weit sind, dass sie den Verletzten aus dem Boot ins Auto tragen können. Die Kinder bleiben die ganze Zeit über auf ihren Aussichtsplätzen, die Erwachsenen schüchtern im Hintergrund. Erste Gerüchte machen die Runde. Es ist der Bräutigam. Betrunken Boot gefahren. Das konnte ja nicht gutgehen.

Ruhig liegt der See, sachte schaukelt das Boot mit den Sanitätern in ihren hellen Jacken. In der Ferne taucht ein blau blinkendes Licht auf, das stetig näherkommt. Die Seepolizei, raunen diejenigen, die es wissen müssen. Neue Gerüchte, neue Vermutungen. Noch mehr Menschen, die gewusst haben, dass es nicht gutgehen konnte. Ruhig gleitet das blaublinkende Boot an den Strand. Die Kinder versammeln sich auf dem Floss, zwischen Ambulanz und Polizeiboot, die Erwachsenen wagen sich näher heran. Zeugenbefragungen. So wirklich scheint niemand etwas gesehen zu haben oder zu wissen. Die Gerüchte verstummen. Es dauert nicht lange, und die Polizei weiss, was sie wissen muss. Mit hochgekrempelten Hosenbeinen, Schuhe und Socken in der Hand, watet der Seepolizist durch den ruhigen See zurück zu seinem blinkenden Boot. In der Zwischenzeit konnte der Verletzte in den Rettungswagen gebracht werden. Er ist ins Wasser gefallen, so munkeln die Erwachsenen nun. In die Schiffsschraube geraten. Er hat dunkle Haut, erzählen die Kinder, es könnte wirklich der Bräutigam sein. Die Boote verlassen den Strand, während das noch immer blinkende Ambulanzfahrzeug langsam vom Campingplatz fährt. Kinder, es ist Zeit, ins Bett zu gehen. Und habt ihr gesehen, was passieren kann, wenn man zu viel Alkohol trinkt? Gute Nacht, sagen die Erwachsenen und ergänzen hinter vorgehaltener Hand: Immerhin wird die Nacht wohl nicht so laut, wie wir befürchtet hatten. Der Junggesellenabschied ist vorbei.

Ruhig liegt der See.

Er wird auch am nächsten Morgen noch ruhig liegen, wenn sie erfahren, dass es nicht der Bräutigam war, der von der Schiffsschraube verletzt wurde. Es gibt keine junge Frau, die sich wundern muss, ob sie sich wirklich für den richtigen Mann entschieden hat. Der Verletzte war ein junger Mann, den die Junggesellen zufällig während ihrer Kanufahrt auf dem See getroffen hatten und der mit ihnen feierte. Der ein eigenes Boot besitzt, dessen Schraube ihm nach einem Sturz in den See Schnittwunden zugefügt hat. Sie werden heilen, so erzählen die nicht mehr ausgelassenen jungen Männer am nächsten Morgen, während sie, wie die meisten Besucher auf dem Campingplatz, ihre Zelte abbrechen.

Es ist Zeit für einen letzten Blick auf den ruhigen See, auf dem so viel Unruhiges geschehen kann. Ein letzter Blick auf seine ruhige Oberfläche, ein letztes Mal die Ruhe einatmen, die von ihm ausgeht, und dann in den VW-Bus steigen, der langsam vom Platz rollt. Weg von diesem Ort, an dem Glück und Unglück so nahe beieinaner liegen, wie sie das meistens tun.

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