Wie viel soziale Interaktion vertrage ich?

Last Updated on 5. März 2022 by Mirjam Wicki

Ich bin eine Person, die vieles ungefiltert aufnimmt. Begegnungen mit Menschen, Worte, nonverbale und unterschwellige Botschaften, Gefühle. Oft beschäftigt mich Gesehenes, Gelesenes und Gehörtes tagelang.

Im Lauf der Zeit habe ich gelernt, dass nicht alles, was ich auf mich münze, auch so gemeint ist. Dass ich mir manchmal Dinge zu Herzen nehme, die für den/die Sender*in schon lange vorbei sind. Dass vieles nicht relevant ist für mein Leben. Längst trifft mich nicht mehr alles bis ins Mark.

Aber es trifft mich. So wie es uns alle trifft. Aktionen, Worte, Gefühle von Menschen treffen in uns drin auf Resonanz, lösen etwas aus und lassen uns reagieren. So funktioniert menschliche Interaktion (sehr kurz zusammengefasst), und ich liebe dieses Zusammenspiel. Ich interessiere mich für meine Mitmenschen, für ihre Meinungen, ihre Sicht auf die Welt, für Reaktionen und Gefühle.

Es ist kein Zufall, dass ich Berufe gewählt habe, die mich mit Menschen zusammenbringen. Die Freude an Kontakten ist zudem einer der Gründe, weshalb ich seit der Pandemie meine Aktivität auf Social Media und überhaupt im Internet verstärkt habe. Ich suche den Austausch auf diesem Weg und freue mich, wenn er stattfindet.

Und manchmal wird er mir zu viel.

Den Begriff Social Overload finde ich sehr passend für das Gefühl, die persönliche Grenze an möglichen sozialen Interaktionen erreicht zu haben. Eben – überfüllt zu sein von dem, was im Austausch mit Menschen auf mich einprasselt. Bei mir ist die Grenze nicht jeden Tag am selben Ort. In 45 Jahren Erfahrung habe ich aber ziemlich gut gelernt, den Overload wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Wann immer möglich, ziehe ich mich dann zurück, mache Pause und gönne mir und meinen überreizten Sinnen und Gedanken etwas Regeneration, z.B. mit Lesen, Spazieren, einem Bad oder auch einem Fernsehabend mit oder ohne Familie.

Die Aktivität auf Social Media und in Onlineforen bringt allerdings neue Herausforderungen mit sich. Begegnungen mit Menschen und Themen, auf die ich in meinem Alltag kaum treffen würde, bereichern mein Leben und mein Denken. Und manchmal belasten sie es. Das ist okay, schliesslich habe ich mich auf die Begegnungen eingelassen, aber wenn ich meine Ressourcen mehr für Internetkontakte brauche als z.B. für meine Familie, stimmt es für mich nicht mehr. Wenn meine Gedanken um einen Tweet, einen Kommentar, eine zufällig gesehene Meinung kreisen, statt dass ich meinen Kindern aufmerksam zuhöre, ist laut meinem Wertesystem etwas schiefgelaufen.

Zusätzlich treffe ich auf Social Media unverhofft auf Themen, die mir nicht guttun. Während ich im direkten Gespräch eher steuern kann, auf welche Thematiken ich mich wann einlasse, spült mir das Internet oft ungefragt Themen in den Alltag. Letzte Woche war es ein Tweet zum Thema Abtreibung, der mich frühmorgens aus der Bahn geworfen hat. Hätte ich es geschafft, nur den Ausgangstweet zu lesen und nicht auch noch die Kommentare dazu, wäre es wohl kein Problem gewesen, aber ich war – wieder einmal – einfach zu neugierig, um nicht weiterzulesen. Es war für mich der Startschuss zu einer Twitterpause und zu grundsätzlichen Überlegungen zum Thema Internetpräsenz und medialem Social Overload.

Seit Anfang August habe ich eine neue Stelle, bei der ich viel Kontakt mit Menschen und ihren Geschichten habe. In den letzten Wochen waren privat wieder mehr Begegnungen – auch in kleinen Menschengruppen – möglich. Jedes Familienmitglied hat wieder vermehrt soziale Interaktionen und bringt entsprechende Stimmungen und Themen nach Hause. Der Overload-Pegel ist wieder schneller erreicht, auch ganz ohne Online-Aktivitäten.

Und doch will ich nicht auf die Präsenz auf Social Media verzichten.

Ich mag meinen Instagram-Account, ich finde Twitter spannend, ich wünsche mir Zeit für meine Writing Buddys aus dem Internet, und ich möchte diesen Blog gern wiederbeleben. Gleichzeitig will ich mich davor schützen, zu viel Energie im Internet zu verlieren, die mir dann in der Familie, bei der Arbeit und beim Schreiben nicht mehr zur Verfügung steht (schliesslich habe ich zwei Buchcharaktere am Start, die ungeduldig darauf warten, dass ich endlich ihre Geschichte erzähle).

Meine momentane Lösung heisst: Meine Zeit und Aktivität auf Social Media bewusster gestalten. Kein schnellen Besuche in den sozialen Netzwerken am frühen Morgen oder über Mittag. Unterscheiden zwischen Ablenkung und Konsum im Gegensatz zu aktivem Austausch und Vernetzung. Manchmal will ich mich nämlich nur kurz auf Instagram, Twitter oder Facebook ausruhen, und dann sehe ich Kommentare, Posts, eine Rezension oder eine private Nachricht, auf die ich eigentlich reagieren möchte, aber dann habe ich gar keine Energie mehr dafür. Ich mag nicht diskutieren, mich nicht einbringen, mich nicht entscheiden, ja, manchmal mag ich mich nicht einmal mehr öffentlich über etwas zu freuen, weil ich sozial und emotional überladen bin. Dieses Nicht-Reagieren will ich mir mit gutem Gewissen erlauben, genauso wie ich mir erlaube, Zeit zu investieren in Kontakte, die ich «nur» über Social Media oder ein Forum pflege.

Ob sich das bewährt? Ob ich «de Föifer ond ‘s Weggli» haben kann, also Austausch und Kontakt online und offline und dabei immer noch Pausen von Social Overload?

Habt ihr Erfahrungen mit den Themen Social Overload, Digital Balance oder ganz einfach damit, wie viel sozialer Austausch für euch stimmig ist?

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